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Chemiewaffenvorwürfe und Russlands Invasion der Ukraine

Im Zuge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat Russland Kiew mehrfach vorgeworfen, Chemiewaffeneinsätze als „false flag“-Operationen zu planen, um dann Moskau die Verantwortung für einen solchen völkerrechtswidrigen Einsatz zuweisen zu können. Der russische Außenminister Sergei Lawrow hat Mitte Juli in einem Zeitungsartikel die aktuellen Chemiewaffenvorwürfe in ein Narrativ eingereiht, das eine Verschwörung westlicher und anderer Staaten gegen Russland sieht. Diese Erzählung ist so diffus und allumfassend, dass sie in Gänze kaum widerlegbar scheint. Umso wichtiger ist es, zentrale und aus Abrüstungssicht wichtige Bausteine, wie die Beschuldigungen, die Ukraine bereite Chemiewaffeneinsätze vor, zu analysieren und zu bewerten.

Die Ukraine weist alle entsprechenden russischen Vorwürfe konsequent und beharrlich zurück. Gleichzeitig beschuldigt Kiew seinerseits Moskau, durch die falschen Anschuldigungen den eigenen Einsatz von Chemiewaffen vorzubereiten. Nachprüfbare Belege für die jeweiligen Vorwürfe sind öffentlich bislang nicht zugänglich. Auch hat keine der Parteien bisher internationale Mechanismen aktiviert, um die Anschuldigungen unabhängig untersuchen zu lassen.

Aber ohne stichhaltige Beweise können solche Anschuldigungen dann negative Konsequenzen für das Regelwerk der völkerrechtlichen Ächtung chemischer Waffen und die Arbeit der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) haben, wenn die Vorwürfe auf Dauer unwidersprochen, unwiderlegt oder unbearbeitet bleiben. Wenn Staaten nicht auf solche Anschuldigungen reagieren, könnte das Vertrauen in die OVCW und die Legitimität der Mechanismen des Chemiewaffen-Übereinkommens (CWÜ) untergraben werden, da die Fähigkeit angezweifelt wird, Vertragsverletzungen aufzuklären und zu ahnden. Umgekehrt verteidigt es die Chemiewaffennorm, wenn die internationale Gemeinschaft geschlossen effektive Antworten auf echte oder falsche Beschuldigungen des Vertragsbruchs findet.

Die russischen Anschuldigungen fügen sich in ein Verhaltensmuster ein, welches bereits zuvor Zweifel an der russischen Unterstützung des CWÜ hatte aufkommen lassen. So hatte Russland beispielsweise versucht, durch eine Desinformationskampagne die Autorität der OVCW im Zusammenhang mit der Untersuchung syrischer Chemiewaffen-Einsätze zu untergraben.

Eine gezielte Freisetzung toxischer Stoffe „die durch ihre chemische Wirkung auf die Lebensvorgänge den Tod, eine vorübergehende Handlungsunfähigkeit oder einen Dauerschaden bei Mensch oder Tier“ bewirkt ist unter dem CWÜ von 1997 als Chemiewaffeneinsatz zu werten. Dies gilt sowohl für den Einsatz klassischer Chemiewaffen, die für den militärischen Einsatz hergestellt wurden, als auch für die gewollte Freisetzung giftiger Stoffe auf anderem Wege, etwa den Beschuss ziviler Chemieanlagen, sofern dieser mit der Absicht erfolgte, die oben zitierte Wirkung zu erzielen. Sowohl Russland als auch die Ukraine sind Mitglieder des CWÜ und damit an das umfassende Chemiewaffenverbot gebunden. Der Einsatz chemischer Waffen ist zudem völkergewohnheitsrechtlich für alle Staaten verboten.

Worum geht es bei diesen Anschuldigungen konkret?

Moskau wirft in mehreren Schreiben an die OVCW ukrainischen Kräften vor, im Donbass und anderen Regionen Chemikalien freisetzen zu wollen, um dann Russland dafür verantwortlich zu machen. Ukrainische „Rebellen“ hätten russische Angriffe auf Chemiewerke, etwa das Chemiewerk Azot in Sjewjerodonezk, genutzt, um durch Sprengungen gefährliche Chemikalien freizusetzen. Allein die ukrainischen „Nationalisten“ hätten Grund für solche Aktionen, die erhebliche Risiken für Menschen und Umwelt mit sich brächten, so die Moskauer Beschuldigung. Die Ukraine würde bei diesen Aktionen von westlichen Staaten und insbesondere den USA unterstützt, behauptet der Kreml.

Die Ukraine hingegen beschuldigt Russland, falsche Vorwürfe in die Welt zu setzen, um damit seinerseits eigene Chemiewaffeneinsätze vorzubereiten oder eigene konventionelle Angriffe zu rechtfertigen. Moskau selbst plane sogenannte „false flag“-Operationen, also Einsätze, die unter „falscher Flagge“ durchgeführt werden, um gezielt den Eindruck hervorzurufen, dass eine andere Partei oder andere Parteien die Verantwortung dafür tragen. Kiew bittet die OVCW zudem, alle „Verstöße gegen das CWÜ durch Russland in der Ukraine“ genau zu beobachten, so zuletzt in einer Verbalnote vom 28. Juli 2022.

Russische Angriffe auf Chemieanlagen hätten zudem bereits zur Freisetzung gefährlicher Chemikalien geführt. Russland habe außerdem seit dem 24. Februar 2022 mehrmals „Chemiewaffen gegen Einheiten der ukrainische Streitkräfte eingesetzt“, so ein am 11. Mai geäußerter ukrainischer Vorwurf. Medienrecherchen legen nahe, dass sich die Vorwürfe unter anderem auf die folgenden Ereignisse beziehen: Zum 11. April berichtete die Ukrainische Prawda, dass britischen Geheimdienstberichten zufolge russische Truppen im Kampf um Mariupol mit „hoher Wahrscheinlichkeit” Phosphormunition eingesetzt hätten. Bei dem Ereignis vom 1. Mai in der Nähe von Mykolajiw handelt es sich vermutlich um den durch russische Bombardierung ausgelösten Brand in einem Lager für Stickstoffdünger, von dem eine Pressemitteilung der ukrainischen Regierung berichtete. Auf Twitter finden sich Berichte über die Bombardierung und anschließende Explosion eines Ammonium-Nitrat Lagers am 11. Mai nahe der Stadt Isjum. Zum Vorwurf eines Einsatzes am 7. Mai ließen sich keine passenden öffentlich zugänglichen Berichte finden.

Sollte es unzweifelhafte Absicht dieser Angriffe gewesen sein, über die Giftwirkung der freigesetzten Chemikalien Mensch oder Tier zu schädigen, wäre dies ein Verstoß gegen das CWÜ. Dies nachzuweisen dürfte aber schwierig sein. Vom CWÜ nicht abgedeckt sind dagegen unbeabsichtigte Freisetzungen von Chemikalien sowie Einsätze von Chemikalien, die für andere militärische Zwecke bestimmt sind und nicht auf die toxische Wirkung der eingesetzten Substanzen abzielen. Beispiele hierfür wären giftige Raketentreibstoffe, der Einsatz von Phosphormunition, um Rauchwände zu erzeugen, oder der Einsatz von Entlaubungsmitteln (siehe: „Agent Orange“ im Vietnamkrieg) zur Schaffung eines freien Sichtfelds für den Beschuss der gegnerischen Streitkräfte.

Allerdings können absichtliche Zerstörungen ziviler Infrastrukturen der chemischen Industrie als Teil der Kriegshandlungen ebenso wie Angriffe auf die Zivilbevölkerung andere internationale Normen und Regeln verletzen: Die Genfer Konventionen und das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) verbieten Zerstörungen von nicht-militärischen Zielen, sofern diese sich nicht proportional zum angestrebten militärischen Nutzen verhalten. Weiterhin verboten sind absichtliche Angriffe auf ausschließlich zivile Ziele und den Einsatz von erstickenden oder giftigen Gasen sowie anderer Stoffe mit solchen Eigenschaften; das Römische Statut des IStGH benennt jedoch keine konkreten Waffenklassen oder Kampfstoffe, die unter diese Definition fallen. Zwar sind weder Russland noch die Ukraine dem Statut des IStGH beigetreten, die Ukraine hat aber dessen Zuständigkeit akzeptiert. Das Verbot des gezielten Einsatzes von Brandwaffen gegen die Zivilbevölkerung und anderen konventionellen Waffen, die übermäßige Leiden verursachen oder unterschiedslos wirken können, ist zudem im dritten Protokoll sowie dem Haupttext der UN-Waffenkonvention (Convention on Certain Conventional Weapons, CCWC) festgeschrieben; Russland und die Ukraine sind den entsprechenden Abkommen beigetreten.

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Stellen die russischen Vorwürfe eine neue Entwicklung dar, und welche Ereignisse sind bisher bekannt?

Die jüngsten russischen Anschuldigungen gliedern sich in eine Reihe ähnlicher Vorwürfe ein, die Moskau auch schon in den Jahren vor seinem Angriff gegen die Ukraine im Februar 2022 verbreitet hatte, etwa als der russische Verteidigungsminister Sergei Shoigu am 21. Dezember 2021 in einer Rede behauptet hatte, nicht identifizierte chemische Stoffe seien in den Osten der Ukraine geliefert worden, um damit „Provokationen“ durchzuführen. Auch berichtete die russische Nachrichtenagentur TASS in Dezember 2021, die USA hätten eine Sendung von Botulinumtoxin mit dazugehörigem Antidot an die Ukraine geliefert. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 wurden die Anschuldigungen schwerwiegender und spezifischer. Die Botulinum-Anschuldigung, zum Beispiel, wurde im Sommer 2022 mit Details über angebliche Vergiftungen russischer Soldaten mit diesem Neurotoxin erneut berichtet. Die Ukraine wies dies mit dem Hinweis zurück, dass es sich hier wohl eher um Vergiftungen mit verdorbenen Fleischkonserven gehandelt habe.

Auch zu Freisetzungen von Chemikalien aus Anlagen, in denen gefährliche Substanzen hergestellt, genutzt oder vorgehalten werden, war es schon vor 2022 gekommen. Die Open Source Investigation-Organisation Bellingcat hatte bereits 2017 einen Überblick aller von Russland angegriffenen ukrainischen Chemieanlagen seit der Annexion der Krim 2014 veröffentlicht. Dies betraf z.B. die Koksfabrikanlage in Avdiivka, die unter anderem Schwefelsäure, Ammoniumsulfat, Phenolate und andere toxische Stoffe produziert, die Phenolfabrik in Nowhorodske, in der Naphthalin, Phenol und andere gefährliche Chemikalien verwendet werden, mehrere Wasseraufbereitungsanlagen bei Donezk, von denen eine allein 300 Tonnen verflüssigtes Chlor gelagert hatte, oder das Umspannwerk in Mychajliwka, in dem sich insgesamt 3,2 Tonnen Quecksilber befanden. Ein fortlaufend aktualisiertes Kompendium der OVCW mit der einschlägigen Korrespondenz der Vertragsstaaten beinhaltet neben den oben bereits genannten Vorfällen zum Beispiel den Beschuss eines Salpetersäure-Lagers in Rubischne am 4. April 2022 und die wiederholten Angriffe auf die Azot-Fabrik in Sjewjerodonezk.

Wie hat die internationale Gemeinschaft auf die Anschuldigungen reagiert?

Die OVCW beobachtet die Entwicklungen in der Ukraine genau und dokumentiert die gegenseitigen auf Chemiewaffen bezogenen Beschuldigungen im oben genannten Kompendium, das mittlerweile auf mehr als 100 Seiten angewachsen ist. Die Organisation selbst verwahrte sich darin am 10. Juni gegen am Vortag erhobene russische Vorwürfe, sie würde helfen, ukrainische „false flag“-Operationen vorzubereiten, indem OVCW-Expert*innen bereitstünden, den Einsatz von Chemiewaffen zu verifizieren. Das Technische Sekretariat forderte damals den Vertreter Moskaus bei der OVCW auf, von solch „haltlosen Behauptungen Abstand zu nehmen“.

Neben der Ukraine selbst haben auch die EU, die USA und Großbritannien im Rahmen der OVCW die russischen Anschuldigungen offiziell und umfassend zurückgewiesen; auch diese Stellungnahmen sind im Kompendium enthalten. Für die EU sprechend brachte Frankreich bereits am 3. März die „tiefe Sorge“ über die Informationen zum Ausdruck, dass die russischen Streitkräfte „false flag“-Provokationen mit Chemikalien vorbereiten könnten, was die Zerstörung industrieller Chemieanlagen einschließen und so die ukrainische Bevölkerung dem Risiko aussetzten könne, mit gefährlichen Chemikalien in Kontakt zu kommen. Die EU verurteilte die „russischen Desinformationkampagnen“ und die „grundlosen Behauptungen“ russischer Regierungsvertreter hinsichtlich chemischer Provokationen in der Ukraine.

Eine Gruppe von 49 CWÜ-Vertragsstaaten verwahrte sich während der Sitzung des OVCW-Exekutivrats im März ebenfalls gegen die „falschen Verdächtigungen“, die Russland gegen die Ukraine vorgebracht hatte. Auch die USA wiesen am 11. März die Anschuldigungen, „dass angeblich radikale Gruppen unter der Kontrolle amerikanischer Dienste mögliche Chemiewaffeneinsätze in der Ukraine vorbereiteten“, als völlig falsch zurück, und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg warnte im März 2022 davor, dass Russlands Vorwurf, die Ukraine verfüge über biologische Waffen, als Vorwand für russische Chemiewaffenangriffe dienen könne.

London wies am 1. Juni die russischen Unterstellungen, dass Großbritannien selbst „chemische Provokationen“ der Ukraine unterstützte, als „haltlos” zurück. Mit Blick auf den Krieg gegen die Ukraine und auf die Aktivitäten russischer Verbündeter in Syrien stellte London zudem fest, dass Russland „seine Bereitschaft, die wesentlichen Grundlagen des CWÜ zu missachten“ unter Beweis gestellt habe.

Mitglieder der Blockfreien Bewegung (Non-Aligned Movement, NAM) sowie mehrere Entwicklungsländer positionieren sich dagegen weniger eindeutig. So äußerten die in der OVCW vertretenen Mitglieder der NAM gemeinsam mit China am 8. März ihre „tiefe Besorgnis“ über jeden Versuch, einen CWÜ-Vertragsstaat „auf der Grundlage nicht belegter Behauptungen durch Medienberichte oder andere offenen Quellen, einschließlich Nichtregierungsorganisationen“ des Chemiewaffeneinsatzes zu beschuldigen. Dies kann als Kritik an den ukrainischen gegen Russland gerichteten Vorwürfen sowie an der öffentlichen Debatte im Westen über die Chemiewaffenvorwürfe gelesen werden. Peking kritisiert grundsätzlich, dass westliche Staaten auch von Nichtregierungsstellen gesammelte und verbreitete Informationen in offizielle Bewertungen der Vertragseinhaltung anderer Staaten einbeziehen. Die Formulierung erinnert auch an russische Vorwürfe, westliche Staaten stützten ihre eigenen Positionen auf Informationen von zivilgesellschaftlichen Gruppierungen.

Indien vertritt eine moderatere Position und vermeidet es, klar Stellung zu beziehen. So brachte Delhi am 8. März die Überzeugung zum Ausdruck, dass „jede Behauptung hinsichtlich des Einsatzes von Chemiewaffen auf der Grundlage einer strikten Anwendung der Bestimmungen und Verfahren des Chemiewaffenübereinkommens“ untersucht werden müsse und entsprechende „Besorgnisse durch Konsultationen und Kooperation“ der betroffenen Parteien behandelt werden sollten.

Hierfür können sowohl Bestimmungen des CWÜ genutzt als auch zusätzliche ad hoc-Instrumente im Rahmen des CWÜ geschaffen werden, wie sie die internationale Gemeinschaft etwa zur Aufklärung von Chemiewaffenangriffen in Syrien eingerichtet hat.

Welche Reaktionen wären möglich?

Das CWÜ bietet mehrere Möglichkeiten, um aufzuklären, ob chemiewaffenbezogene Anschuldigungen den Tatsachen entsprechen. Normalerweise dienen unter anderem die Routineinspektionen der OVCW dazu, die Vertragstreue der Mitgliedsstaaten unter Beweis zu stellen. Allerdings sind die entsprechenden Aktivitäten in der Ukraine durch den Krieg derzeit stark beeinträchtigt. Die niedrigste Schwelle der sonstigen Aufklärungsmechanismen beinhaltet einen bilateralen Informationsaustausch zwischen den beteiligten Staaten gemäß Artikel IX des CWÜ. Angesichts der aktuellen Kriegssituation und des fehlenden Vertrauens in die russische Kooperationsbereitschaft scheinen jedoch die politischen Voraussetzungen zu fehlen, dieses Verfahren zur Wahrheitsfindung zu nutzen.

Aufklärung kann außerdem der OVCW-Exekutivrat anstreben. Dieses Gremium, in dem 41 CWÜ-Vertragsstaaten regelmäßig Beschlüsse zur Umsetzung des CWÜ fassen, kann ein Expertenteam einsetzen, um alle verfügbaren Informationen zum entsprechenden Fall zu überprüfen. Die Ukraine hat zwar nicht formal diese Klärungsprozedur in Gang gesetzt, aber den Exekutivrat mehrfach ersucht, die Situation aufmerksam zu beobachten, und dabei auch auf ihr Recht nach dem CWÜ hingewiesen, im Falle eines angedrohten oder tatsächlich erfolgten Chemiewaffenangriffs Beistand und Schutz anzufordern (s.u.).

Ein weiterer wichtiger Mechanismus des CWÜ zur Tatsachenermittlung, der bisher jedoch noch nie zur Anwendung kam, ist die Verdachtsinspektion – eine besondere Untersuchung, um möglichen Vertragsverstößen nachzugehen. Das Verfahren ist im CWÜ durch Artikel IX sowie in Teil X des Verifikationsanhangs geregelt. Russland könnte die OVCW unter Vorlage von Beweisen ersuchen, seine Anschuldigungen gegen die Ukraine bezüglich der möglichen Vorbereitung von „false flag“-Angriffen zu untersuchen. Auch die Ukraine oder ein anderer CWÜ-Vertragsstaat könnte diese Mechanismen aktivieren, um so zu versuchen, den Wahrheitsgehalt der russischen Anschuldigungen festzustellen.

Sollte es konkrete Hinweise auf einen tatsächlich erfolgten Einsatz chemischer Waffen geben, hielte das CWÜ schließlich noch ein weiteres, bisher ebenfalls ungenutztes Instrument bereit: Den Mechanismus zur Untersuchung vermuteter Chemiewaffeneinsätze nach Artikel IX, X und Teil XI des Verifikationsanhangs.

Um solche Sondereinsätze zu planen und vorzubereiten, hat die OVCW eine Einheit aufgebaut, die mit dem Ausbau entsprechender Fähigkeiten und mit der Notfallplanung betraut ist (Capacity-Building and Contingency Planning Cell). Sie führt zudem gezielte Trainings und Übungen durch. Die Organisation ist außerdem dabei, die eigenen analytischen und forensischen Fähigkeiten unter anderem in den dafür ausgewiesenen Laboratorien in Mitgliedsstaaten sowie mit dem im Bau befindlichen OVCW-eigenen Centre for Chemistry and Technology auszuweiten. Das Lagezentrum der OVCW liefert rund um die Uhr Unterstützung für im Einsatz befindliche Teams. Zwar wäre die Durchführung einer Verdachtsinspektion oder anderen Untersuchung im ukrainischen Kriegsgebiet keine leichte Aufgabe, aber die Arbeit der OVCW in Syrien belegt, dass die Organisation durchaus in der Lage ist, Tatsachenermittlung und andere spezielle Missionen unter äußerst herausfordernden Umständen und in einer akuten Kriegssituation durchzuführen.

Das Beispiel Syrien hat außerdem gezeigt, wie die OVCW sich auf neue Situationen einstellen und neue, maßgeschneiderte Instrumente entwickeln kann. Zusätzlich zur Durchführung einer Verdachtsinspektion oder der Untersuchung eines vermuteten Chemiewaffeneinsatzes – die beide von einem CWÜ-Mitgliedsstaat beantragt werden müssten, damit die OVCW tätig werden kann – könnten daher theoretisch auch für die Ukraine ad hoc-Instrumente analog zur Fact-Finding Mission (FFM) oder zum Investigation and Identification Team (IIT) für Syrien angewendet werden, um einen möglichen Chemiewaffengebrauch aufzuklären. Die OVCW hatte diese beiden Instrumente geschaffen, um unter Bedingungen des syrischen Bürgerkriegs belastbare Aussagen treffen zu können, ob Chemiewaffen eingesetzt wurden, beziehungsweise die Verantwortlichen für solche Kriegsverbrechen zu identifizieren. Die CWÜ-Mitglieder könnten das IIT auch beauftragen, die Verantwortlichen für Chemiewaffenangriffe in anderen Staaten, etwa der Ukraine, zu ermitteln. Sowohl die OPCW als auch die Vertragsstaaten können die Ukraine zudem nach Artikel X im Bereich des Beistands und Schutzes gegen einen möglichen Chemiewaffenangriff unterstützen. Die OVCW und ukrainische Vertreter und Abgeordnete haben solche Schritte bereits besprochen, und die Ukraine hat bereits am bereits am 18. März unter Berufung auf Artikel X, Absatz 3 des CWÜ die Vertragsstaaten um bilaterale Unterstützung beim Schutz vor Chemiewaffen gebeten. Auch könnte die OVCW unter Artikel X die Unterstützung der Mitgliedsstaaten mobilisieren, etwa in Form der Bereitstellung von Schutzausrüstung wie Detektoren, Atemschutzmasken und Schutzkleidung, Mitteln zur Dekontamination sowie medizinischen Gegenmitteln. Der Generaldirektor könnte Notfallhilfe für die Opfer eines Chemiewaffeneinsatzes freigeben und über eine Untersuchung des vermuteten Chemiewaffeneinsatzes feststellen, ob tatsächlich solche Waffen eingesetzt wurden und wenn ja, von wem (s. oben).

Warum wäre die Aufklärung wichtig?

Obwohl es für die russischen Anschuldigungen keine belastbaren öffentlich zugänglichen Belege gibt, ist es wichtig, ihnen konsequent und beharrlich entgegenzutreten. Auch falsche Beschuldigungen können die internationale Chemiewaffenkontrolle schwächen, wenn sie (wie Russland es tut) dauerhaft wiederholt werden, mit Halbwahrheiten vermischt und in ein Narrativ eingefügt werden, das die redlichen Absichten anderer Vertragsparteien in Frage stellt. Klare und konsistente Haltungen sind zudem wichtig, um deutlich zu machen, dass ein jeglicher Chemiewaffeneinsatz geahndet würde. Schließlich geht es darum, jene Staaten international zu isolieren, deren erkennbares Ziel es ist, Stöcke in die Räder multilateraler Institutionen wie der OVCW zu stecken, um so die eigenen Interessen zu befördern. Wie robust Normen wie das Chemiewaffenverbot sind, hängt nicht nur davon ab, wie oft und schwerwiegend gegen sie verstoßen wird, sondern auch wie geschlossen die internationale Gemeinschaft auf solche Brüche reagiert.

Wie ist Russlands Verhalten einzuschätzen?

Während Russland seit 2015 seinen Verbündeten Syrien wiederholt gegen die legitime Aufklärungsarbeit der OVCW bezüglich der syrischen Vertragsbrüche in Schutz genommen hat, richten sich die russischen Vorwürfe im Fall der Ukraine gegen einen CWÜ-Vertragsstaat, an dessen Vertragstreue die OVCW keinerlei Zweifel geäußert hat. Dagegen haben 55 OVCW-Mitgliedstaaten eine Reihe von offenen Fragen an Russland gerichtet, etwa im Zusammenhang mit versuchten Attentaten mit neuartigen Nervenkampfstoffen, sogenannten Novichoks. Russland hatte bei seinem CWÜ-Beitritt 1997 mit rund 40.000 Tonnen die weltweit größten CW-Bestände gegenüber der OVCW deklariert und diese bis Ende 2017 unter internationaler Verifikation vernichtet. Auch die entsprechenden Produktionsanlagen wurden deklariert und entweder zerstört oder für friedliche Zwecke umgerüstet. Allerdings haben unter anderem die USA schon länger den Verdacht geäußert, dass die Deklarationen nicht vollständig gewesen sein könnten, dass möglicherweise einige Bestände oder Anlagen nicht angegeben wurden und dass Russland somit sein Chemiewaffenprogramm fortgesetzt oder Bestände zurückgehalten haben könnte.

Einen Anhaltspunkt für diesen Verdacht stellte 2002 die Geiselnahme in einem Moskauer Theater dar, bei der ein aerosoliertes Fentanyl-Derivat, ein starkes Narkotikum, zur Befreiung der Geiseln eingesetzt wurde. Die schnelle Einsatzfähigkeit und die chemische Struktur der verwendeten Agenzien warfen Fragen nach möglichen weitergehenden Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten Russlands auf. In den letzten Jahren gab es in Verbindung mit den versuchten Attentaten gegen Sergey Skripal (2018) und Alexej Navalny (2020) zusätzliche Hinweise auf offensive Chemiewaffen-Aktivitäten. In beiden Fällen wurden die Opfer mit Stoffen der Novichok-Gruppe vergiftet, die von der Sowjetunion im Rahmen ihres Chemiewaffenprogramms entwickelt worden waren.

Novichok-Kampfstoffe waren zunächst nicht in den OVCW-Listen der kontrollierten Substanzen enthalten, einige davon wurden aber nach dem Skripal-Anschlag mit aufgenommen. Diese Listen sind ausschließlich ein Instrument zur Hilfestellung bei der Verifikation des Chemiewaffenübereinkommens. Sie stellen keine Listen verbotener Stoffe dar und definieren nicht, was eine chemische Waffe ist. Die Änderung der Listen, die erste überhaupt, betrifft allerdings nur einige Novichok-Strukturen. So ergab eine technische Untersuchung, die die OVCW auf deutsches Ersuchen im Zusammenhang mit dem Fall Navalny durchführte, dass der hierbei eingesetzte Kampfstoff von der Erweiterung der Listen aus dem Jahr 2019 nicht erfasst wurde. Das Auftauchen solcher neuen Novichok-Stoffe verstärkte den Verdacht, dass russische Laboratorien weiterhin ein Programm zur Entwicklung chemischer Kampfstoffe unterhalten. Während es also zwar Verdachtsmomente für russische Vertragsverstöße gibt, liegen keine eindeutigen, gerichtsverwertbaren Beweise dafür vor, dass Russland solche hochtoxische Nervenkampfstoffe als Waffe eingesetzt hat.

Was kann getan werden?

Anschuldigungen geplanter oder vermutlicher Vertragsbrüche sind schwerwiegend und müssen mit nachprüfbaren Fakten untermauert werden. Solche Beweismittel können intern oder in unabhängigen Untersuchungen einschließlich der Mechanismen des CWÜ sichergestellt und der internationalen Gemeinschaft zur Bewertung und zum Handeln vorgelegt werden.

Die Ergebnisse solcher Untersuchungen können zudem Grundlage dafür sein, Sanktionen gegen die Regelbrecher zu verhängen. Aussagekräftige Untersuchungsergebnisse könnten auch Desinformation zu einer weniger attraktiven Strategie machen und dazu beitragen, den Einsatz chemischer Waffen abzuschrecken. Dabei muss die Beantragung formaler Untersuchungsverfahren durch die OVCW aber gegen das Risiko abgewogen werden, dass Russland versuchen könnte, ein eventuelles negatives oder unklares Untersuchungsergebnis propagandistisch auszuschlachten. Der eingangs zitierte Artikel des russischen Außenministers Lawrow würde ein solches Verhalten erwarten lassen.

Auch wenn Russland bisher im CWÜ-Rahmen weder für mögliche Verstöße gegen das CWÜ noch für falsche Anschuldigungen gegen die Ukraine belangt wurde, wäre es wichtig, den russischen Behauptungen bezüglich der Ukraine mit sorgfältigen Analysen und unabhängigen Untersuchungen zu begegnen. Gemeinsame klare Stellungnahmen und öffentliche Verlautbarungen können einer Eskalation der Kriegssituation und weiteren zwischenstaatlichen Spannungen innerhalb und außerhalb der OVCW entgegenwirken. Zudem sind gesicherte Beweismittel für einen Bruch des Chemiewaffeneinsatzes eine Voraussetzung für die Verhängung von Sanktionen und die Eröffnung strafrechtlicher Verfahren.

Zudem sollte auch die Ukraine erwägen, ihre Vorwürfe russischer Chemiewaffeneinsätze international untersuchen zu lassen. Die dauerhafte Nichtanwendung internationaler Verfahren zur Aufklärung solcher Verdachtsfälle kann den falschen und gefährlichen Eindruck erwecken, dass diese nicht zweckmäßig sind und dass den CWÜ-Mitgliedsstaaten das Vertrauen in ihre Wirksamkeit fehlt.

Sollten die Staaten jedoch, aus welchen Gründen auch immer, formale internationale Untersuchungen vermeiden, obliegt immer noch dem Generaldirektor der OVCW eine grundsätzliche, aus dem Amt hervorgehende Verpflichtung, die Norm gegen chemische Waffen zu verteidigen und Anschuldigungen über mögliche Vertragsverletzungen systematisch nachzugehen, wenn nötig und möglich auch mit Untersuchungen vor Ort.

OVCW Generaldirektor Fernando Arias beim Chemical Weapons Convention@25-Seminar im OVCW-Sitz, Den Haag, 20.Mai 2022 © Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons